Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus by Heins Volker M
Autor:Heins, Volker M. [Heins, Volker M.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783593399690
Herausgeber: Campus Verlag
veröffentlicht: 2013-10-01T22:00:00+00:00
Zwei Varianten der feministischen Kritik
Ähnlich wie die Diskussion um das Quebec-Beispiel kreist auch die feministische Diskussion von Anfang an um das Problem von Formen der Diskriminierung und Unterdrückung innerhalb bestimmter kulturell definierter Gruppen. Dies ist alles andere als ein nebensächliches Thema. Die Abwendung vom Multikulturalismus in Europa ist zu einem Teil der Wahrnehmung geschuldet, dass es – neben Homosexuellen – vor allem Frauen sind, die in »fremden Kulturen« besonders zu leiden haben. Die Liste der als kulturell klassifizierten Praktiken, vor denen die Gegner des Multikulturalismus die westliche Zivilisation durch ein allgemeines Importverbot bewahren möchten, umfasst den Kopftuchzwang, arrangierte Ehen, Polygamie, sexistische Rollenmuster und Scheidungsregeln, die selektive Abtreibung weiblicher Föten und anderes mehr. Wie wir gesehen haben, hat dieses Thema der gruppeninternen Diskriminierung auch Kymlicka und Habermas intensiv beschäftigt. Erst feministische Autorinnen haben jedoch am Material konkreter Konflikte die Diskussion substanziell vorangetrieben und eine »zweite Welle« (Shachar 2007) der Diskussion um den Multikulturalismus eingeleitet.
Ich skizziere im Folgenden zunächst die Struktur einfacher feministischer Theorien, die bestimmte Formen der Entrechtung oder Unterdrückung von Frauen auf illiberale kulturelle Traditionen zurückführen, die damit nicht länger als schützenswert gelten sollen. Diese liberale Position beruft sich auf einen Begriff der durch subjektive Rechte verbürgten negativen Freiheit. Im Anschluss daran stelle ich komplexer argumentierende Beiträge vor, die eine Verschachtelung von Verhältnissen diagnostizieren. Gruppen, innerhalb derer die Teilgruppe der Frauen (oder auch der Kinder, Homosexuellen usw.) unterdrückt wird, können dieser Strömung zufolge ihrerseits unterdrückt werden und daher sehr wohl auf bestimmte Formen des Schutzes angewiesen bleiben, ohne dass dieser Schutz auf deren hierarchische Binnenverhältnisse ausgedehnt werden darf. Diese Position, die liberale Motive mit einer erhöhten Sensibilität für kulturelle Bedeutungen verbindet, definiert Freiheit als relationale Autonomie. Individuelle Freiheit ist demnach mehr als die Möglichkeit der Abwanderung und des Ausstiegs aus der Herkunftskultur. Um in einem sozialen Sinn frei zu sein, sind Individuen vielmehr auf kulturelle und andere Beziehungen und Ressourcen angewiesen, die sie vorfinden und sich zunutze machen können.
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